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TEXT Kerstin Böhning I TITELFOTO Thibault Poriel
Eine Reise in die Bretagne bedeutet für uns immer ein Eintauchen in eine besondere Mischung aus Weite, Natur, Genuss und Gelassenheit. Jedes Mal ist es ein Stück Heimkehr – und jedes Mal neu ein Geschenk.
Anreise – durchfahren oder verweilen?
Die Frage, die sich in jedem Jahr wieder stellt, ist: Fahren wir durch oder legen wir einen Zwischenstopp in der Champagne, in Versailles oder in Chartres ein? Von unserem Zuhause in Deutschland aus sind es 1.250 Kilometer bis zum Ziel, und wir sind sie schon unzählige Male gefahren. Unser derzeitiger Lieblingsort in der Bretagne hat eine so große Anziehungskraft, dass wir uns sehr oft für das Durchfahren entscheiden. Auf den Autobahnen in Frankreich lässt es sich mit 130 Stundenkilometern entspannt reisen, und so erreichen wir auch diesmal ohne Stopp das Finistère. Für uns das schönste Ende der Welt – oder ihr Anfang. Die Bretonen sagen: „Jedes Mal, wenn du in die Bretagne kommst, wirst du ein Teil von ihr.“ Das macht mich sehr glücklich, denn tief in meinem Inneren wächst damit die hoffnungsvoll-naive Idee, eines Tages ganz Bretonin zu sein.


Ankommen am Meer
Mit dem ersten Schritt ins Ferienhaus ist mein Glück blau-weiß geringelt und mein Tun sowie mein Nichtstun richten sich nach dem Rhythmus des Meeres. Ich bin angekommen im Nordwesten der Bretagne, an einem kleinen Ort am Meer bei Plougasnou. Wir bringen unsere Koffer ins Haus und hören dabei wahlweise die melancholische Melodie von „La Mer“, ein Chanson von Charles Trenet, und die Hymne an die Liebe von Édith Piaf. Céline Dion hatte sie zur Eröffnung der Olympischen Spiele 2024 eindrucksvoll vom Eiffelturm heruntergeschmettert. Koffer auspacken, in den Ort gehen, nachschauen, ob alles beim Alten ist. Ist es.
Die Menschen gehen wie immer in Ruhe ihrem Tun nach. Verändert hat sich nix. An der Stelle sage ich: zum Glück! Es gibt eine Boulangerie, eine Bar, einen Buchladen mit Teestube, ein kleines Lebensmittelgeschäft, einen Weinladen, keinen Metzger mehr, zwei Restaurants und eine Crêperie. Am Dienstag ist Markt. Alles sympathisch überschaubar.

Einfach sein
Ich habe auf einer Impulsgeber-Postkarte in Deutschland den Satz gelesen: „Wer bist du, wenn du niemand sein musst?“ Und an diesem Ort klingt die Frage wieder in mir. Meine Antwort: Ich bin einfach. Hier, jetzt, angenehm leer.
Die Stimmung in mir und auch im Außen ist entspannt. Wolken fliegen über den Himmel, der Wind kommt vom Meer und bringt diesen unverwechselbaren Duft mit sich – salzig, frisch und verheißungsvoll. Hier oben, im Nordwesten der Republik, herrscht eine andere Gelassenheit als im Rest der Grande Nation. Jedenfalls empfinde ich das so. Die Bretoninnen und Bretonen sind aufgeschlossen, redselig, sehr freundlich. Sie leben im Takt der Gezeiten, die sich hier mit der ganzen Macht des Atlantischen Ozeans zeigen. Der Tidenhub liegt im August und September zwischen 6,65 und 9,45 Metern. Es ist eine große Bewegung, die dafür sorgt, dass die Küstenlandschaft sich alle paar Stunden verändert.
Wo morgens die Wellen auf die Strände rollen, offenbart sich mittags ein weites Felsenmeer. Oder andersherum. Die Gezeiten wandern. Dann liegen Algen auf dem Trockenen. Austern, Schnecken und auch alles mögliche andere Getier, das eine Weile ohne Wasser auskommt. Dann schwärmen sie aus, die Bretonen, mit Eimern und Schippen, und es wird gekratzt und gegraben: pêche à pied. Man sucht nach Krustentieren und Algen für den eigenen Kochtopf oder nach Ködern zum Angeln. Zwei Stunden, bevor die Flut am höchsten steht, beißen sie am besten, habe ich mir sagen lassen.
Und der Beweis wurde von Jean-Pierre, unserem Nachbarn, auf einem schön dekorierten Teller wenige Stunden später vorbeigebracht: ein Barsch, der vier Personen satt macht. Merci à la mer! Für mich ist das mit dem Angeln nicht das Richtige, und ich bevorzuge es, auf dem Markt am Dienstag die Zutaten für unsere kleinen Gourmet-Momente einzukaufen. Frische Austern, Hummer, Seespinnen, Krebse und natürlich frisches Gemüse, unzählige Käsevariationen von Kuh, Schaf, Ziege. Auffallend ist das Brotsortiment an den Ständen – es hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. Auch reines Buchweizen-Gebäck wird angeboten!


Köstlichkeiten und Spezialitäten der Bretagne
Oder: Was sind die köstlichen Signature-Dishes dieser Gegend? Es sind Crêpes, Galettes, Far Breton oder Kouign Amann. Das bedeutet: viel (!) salzige Butter, Mehl, Eier, Zucker. Die Arbeit auf dem Land und das Leben am und auf dem Meer machen hungrig. Diese traditionellen, einfachen Speisen sättigen und sind schnell zubereitet. Der Einsatz von Buchweizenmehl (farine de sarrasin) für die herzhaften Galettes macht den Genuss auch für Menschen möglich, die kein Weizenmehl essen möchten oder können. Austern, Algen und Artischocken sind weitere typische Köstlichkeiten dieser Region. Und im Anbau landschaftsprägend: Ausladende Artischockenfelder strahlen mit ihren blau-violetten Blüten und den grau-blauen Blättern mit dem Himmel um die Wette – wenn sie blühen und der Himmel auch mal blau ist. Reine Sonnenanbeterinnen und -anbeter werden in der Bretagne eher nicht – immer – glücklich. Na klar scheint die Sonne, und es wird auch richtig warm, aber eben nicht am Stück. Regelmäßige Schauer sorgen für kühle Momente und dafür, dass auch das Hinterland, die Wälder und die privaten Gärten saftig grün sind. Mit viel Sinn für Schönheit wird hier die Landschaft gepflegt. Die Ikonen des schlechten Geschmacks, die in deutschen Vorgartenarrangements mit viel Beton, Stein und Gabionen um die Wette eifern, findet man hier zum Glück nicht. Sogar die Verkehrsinseln im Inneren der (vielen!) Kreisel sind so wunderschön dekoriert wie in Deutschland die Höhepunkte der Gartenschauen.
Ja, sofort, sehr gerne. Auch die gastronomische Landschaft der Bretagne ist verheißungsvoll, lohnend, kreativ und vielfach ausgezeichnet. Sie verbindet die Früchte des Meeres mit den Gaben des Landes, setzt wann immer möglich die Produkte lokaler (biologisch arbeitender) Erzeuger ein, sie ist ambitioniert-bodenständig und oft sehr jung. Vegane, vegetarische Küche auf Hauben-Niveau sind keine Ausnahme.
Man bleibt der Haute Cuisine Française treu und öffnet sich auch für internationale Momente. Als gastro-affiner Mensch begibt man sich am besten mit dem Kompendium der Vereinigung „Tables & Saveurs de Bretagne“ auf die Reise. Wir haben uns diesmal von Nicolas Carro im „Restaurant Nicolas Carro“ im Hôtel de Carantec mit seinem sechsgängigen Menü „L’expression“ verwöhnen lassen.
Carro arbeitet mit regionalen Erzeugern über kurze Wege zusammen und inszeniert gekonnt und für die Gäste nachvollziehbar seine Heimatregion. Die Erklärungen am Tisch sind juste, comme il faut und wirklich inspirierend. Die Stimmung ist respektvoll-gelassen.
Das Menü „L’expression“ fokussiert auf Meeresfrüchte – wir bekommen Langustinen, Kaviar von Petrossian, Hummer und roten Thun: Genau das möchte man haben, mit dem offenen Blick aus bodentiefen Fenstern über die Bucht von Carantec.
Mein Favorit ist tatsächlich das Dessert: La pavlova à la rhubarbe de Carantec et géranium rosat. Fantastique! Bei einem Besuch in Saint-Pol-de-Léon und seiner eindrucksvollen Kathedrale gönnen wir uns einen Lunch im „La Pomme d’Api“ von Jérémie Le Calvez und Jessica Chelala. In einem entzückenden Ambiente – das Haus ist aus dem 17. Jahrhundert – genießen wir ein Dreigang-Mittagsmenü und entscheiden uns noch vor dem Dessert, wiederzukommen und einen ganzen Abend hier zu verbringen. Die Handschrift von Le Calvez gefällt uns und die Auswahl der Menüs ebenso: Saveurs (drei Gänge), Inspirations (vier Gänge), Dégustations (sechs Gänge). In der Karte zeigt Le Calvez für nahezu jede seiner Hauptzutaten, wo er sie bezieht, und der letzte Hinweis findet sich in Nantes: Hier kommen Foie Gras, Trüffel, Wildspezialitäten und Pilze her. Ich bin beeindruckt, dass er sogar Zitrusfrüchte in der Region findet: Seine agrumes, Passionsfrucht oder Ingwer kauft er in Plouénan – nicht mal 10 km von Carantec entfernt.


Und nochmal fühle ich der Frage nach dem Sein hinterher, wenn man ganz frei sein kann. Diesmal ist meine Antwort: Ich bin dankbar. Und: Ich bin stolz auf dieses tapfere Stück Land am westlichsten Zipfel Frankreichs, dem Atlantik und seiner wilden Kraft trotzend und gleichzeitig so voller zärtlicher Genussmomente. Was für ein Glück, dass ich immer mehr ein Teil davon sein darf!
Adressen im Überblick
Weitere lohnende Genussorte der Region:
Primel Café
3 Place des Frères Poupon, 29630 Plougasnou
Fisch und Meeresfrüchte! Kleine Besonderheit: wunderschöne Terrasse direkt am Meer mit bester Sicht auf traumhafte Sonnenuntergänge. Menü: 23 bis 40 Euro
Le Grand Café de la Terrasse
31 Place des Otages, 29600 Morlaix
www.legrandcafedelaterrasse.fr
Brasserie, traditionelle Küche. Tolles Jugendstil-Ambiente. Kleine Besonderheit: Am Samstag ist Markt in Morlaix, und man sitzt hier auf der Terrasse mit Blick aufs Geschehen! Menü: 10 bis 18 Euro (mittags)
Brasserie de la Plage
4 Place du Port, 29241 Locquirec
www.brasseriedelaplage.com
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